Das Römische Reich vollzog in der Zeit der Republik (510-27 v. Chr.) einen beispiellosen Aufstieg von einer Lokal- zur Weltmacht des Mittelmeerraumes. In der Kaiserzeit erweiterte sich dieser Herrschaftsbereich zwar ebenfalls, konsolidierte sich jedoch in den meisten Regionen. Quasi mit dem Beginn der Kaiserzeit zusammen fällt auch der Sieg Octavians, des späteren Kaisers Augustus, im römischen Bürgerkrieg nach der Eroberung des ptolemäischen Alexandria: Als Kleopatra (VII.), die letzte ptolemäische Herrscherin, vor den Truppen Octavians den Freitod wählte, begann die römische Herrschaft über Ägypten, die - mit Ausnahme weniger Jahre im späten 3. und frühen 7. Jh. - für knapp 670 Jahre unerschüttert blieb.
Von anderen Provinzen des Römischen Reiches unterscheidet sich Ägypten aus Forschungsperspektive vor allem durch den Umstand, dass sich aus dieser Provinz hunderttausende von Papyri erhalten haben. Diese Quellen erlauben uns ein einzigartig detailliertes Bild der antiken Welt aus der Perspektive auch von Personen außerhalb einer kleinen Elite - in die Netzwerke und alltäglichen Prozesse römischer Herrschaftspraxis und provinzialen Lebens in Ägypten. In der Forschung galt die Provinz Ägypten einst als „Sonderfall“, als kaiserlicher Privatbesitz abseits der normalen römischen Provinzverwaltung, und die papyrologische Dokumentation daher sozusagen als Kuriosum und nur am Rande relevant für das Studium der Römischen Geschichte. Diese Ansicht ist lange überholt und Historiker:innen haben die Relevanz der Papyri für das Verständnis der römischen Provinzialgeschichte vielfach erkannt und demonstriert: Zunehmend erscheinen historische Arbeiten auch von Nicht-Papyrolog:innen, welche die Papyri für die Bearbeitung übergreifender historischer Fragestellungen heranziehen und in denen Ägypten als (außergewöhnlich gut dokumentiertes) Beispiel einer römischen Provinz analysiert wird.
Angesichts dieser Tendenz möchte die Übung über zwei ineinandergreifende Ansätze Studierenden den Reichtum der Papyri zugänglich machen und sie in die Lage versetzen, dieses im Bereich der Antike unvergleichlich umfangreiche und nach wie vor stetig wachsende Quellencorpus für ihre Arbeit zu nutzen:
Thematisch wird das Leben der römischen Bürger:innen, alexandrinischen Bürger:innen, Polis-Griech:innen, Jud:innen sowie der großen Mehrheit der Ägypter:innen unter römischer Herrschaft im Zentrum stehen. Hierbei werden Fragen nach der römischen Herrschaftsausübung durch Verwaltung, Militär und Justiz ebenso behandelt wie solche nach dem Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungs-(oder vielmehr: Status-)Gruppen und kulturellen Transferprozessen, der Beziehung zwischen staatlicher Verwaltung und Individuum, wirtschaftlichen Prozessen sowie sozialen Strukturen.
Methodisch wird die Übung vor allem die Arbeit mit den Papyri, auch im Zusammenspiel mit anderen Quellengattungen, umfassen, wobei altsprachliche Kenntnisse explizit nicht vorausgesetzt werden. Zentrale Inhalte sind die Lektüre und Interpretation papyrologischer Quellen, der Umgang mit papyrologischen Editionen, Kommentaren und Datenbanken sowie die Diskussion historisch-papyrologischer Fachliteratur.
- Trainer/in: Matthias Stern